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Spielfeld der Herrenmenschen – Kolonialismus und Rassismus im Fußball

Die Verbreitung des Fußballs wäre ohne den Kolonialismus nicht denkbar gewesen. Briten, Franzosen, aber auch Deutsche nutzten das Spiel für die Unterdrückung ihrer Untertanen. Ihre „Rassenlehre“ ist längst widerlegt, doch bis heute durchzieht rassistisches Denken die Sportindustrie. Der Journalist Ronny Blaschke hat die Langzeitfolgen auf fünf Kontinenten erforscht. Und er porträtiert Menschen, die den Antirassismus auf ein neues Niveau heben wollen. Wie lässt sich der Fußball dekolonisieren?

Inhalt

Einleitung – Das System ist der Skandal, nicht der Einzelfall

1. Exotische Trommeln für das Tor des Monats

Hartnäckig halten sich Stereotype, wonach Schwarze und weiße Spieler unterschiedliche Veranlagungen haben. Ein Blick in die Geschichte des deutschen Fußballs – und in die Gegenwart

2. Das Vermächtnis der Windrush-Generation

In England symbolisieren Fußballer aus der Karibik die Errungenschaften von Einwander*innen. Doch sobald sie sich politisch äußern, schlägt die Zuneigung für sie in Ablehnung um

3. Vom Mythos der harmonischen Unterdrückung

In Portugal ist die Wahrnehmung verbreitet, dass die Seefahrernation einen milderen Imperialismus pflegte. Der Fußball stützt diese Romantisierung und überdeckt den alltäglichen Rassismus

4. Aussätzige im eigenen Land

Britische Kolonialherren wollten ihre Untergebenen auch mit Fußball „zivilisieren“ und aufwiegeln. Besonders deutlich lässt sich ihre Gewaltherrschaft in Indien nachzeichnen

5. Im Kofferraum ins Exil

In Namibia hielt die herrschende weiße Minderheit Schwarze Fußballer aus ihren Ligen fern. Heute, mehr drei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit, besteht die soziale Ungleichheit fort

6. Schwarze Trikots für das Gedenken

Für den Freiheitskampf ging eine algerische Mannschaft auf Tournee und warb für die Unabhängigkeit von Frankreich. Ihre Symbolik prägt das Land bis heute

7. Tradition der Verleugnung

Die angebliche „Rassendemokratie“ in Brasilien sieht vor, dass Schwarze Menschen im Fußball eine natürliche Begabung für das Spiel haben, nicht aber für Führungsaufgaben

8. Folklore mit Federschmuck

Vereine in Lateinamerika vereinnahmen Bruchstücke indigener Geschichte und geben sich kämpferisch. Ureinwohner*innen sehen darin eine Verharmlosung von Landraub und Ausbeutung

9. Viva Los Angeles

Die Kosten für den Jugendfußball der USA sind hoch. Latinos, die sich das seltener leisten können, sind als Nationalspielerinnen und Trainerinnen unterrepräsentiert

10. Ausblick – Decolonize Football

Einleitung – Das System ist der Skandal, nicht der Einzelfall

Das Spiel im Estadio Mestalla von Valencia gerät außer Kontrolle. Zum wiederholten Mal wird Vinícius Júnior von Fans rassistisch beleidigt. Der Spieler von Real Madrid steht mit aufgerissenen Augen an der Seitenlinie und deutet auf die Tribüne, wo die mutmaßlichen Täter sitzen. Das heimische Publikum verhöhnt Vinícius Júnior weiter. Gegnerische Spieler eilen herbei und geben ihm zu verstehen, er solle aus einer Kleinigkeit kein Drama machen. Der Schiedsrichter wirkt überfordert und lässt weiterspielen. In den Wochen danach, im Frühjahr 2023, wird Vinícius Júnior abermals diskriminiert, bedroht, eingeschüchtert.

Der brasilianische Nationalspieler setzt sich zu Wehr und bezeichnet Spanien in sozialen Medien als „Land der Rassisten“. Immer wieder fordert er in sozialen Medien härtere Strafen gegen Täter und eine bessere Prävention. Vinícius Júnior erhält in jenen Wochen auch viel Unterstützung und Solidarität. Internationale Medien greifen das Thema auf. Politiker*innen laden zu Gesprächsrunden ein. Und der Weltfußballverband Fifa kündigt neue Maßnahmen an. Für einige Wochen steht Rassismus im Fußball im Fokus einer großen Öffentlichkeit. Für einige Wochen, doch dann kehrt Ruhe ein. Wieder einmal.

Es ist ein Muster, das sich seit den 1990er Jahren wiederholt. Schwarze Fußballer stehen als Opfer für einige Tage oder Wochen im Zentrum von „Rassismus-Skandalen“, wie es Boulevardmedien gern formulieren. Funktionäre sprechen von „Schande“, von „so genannten Fans“ und von „gesellschaftlichen Problemen“, die der Fußball „ausbaden“ müsse. Als hätten wir es mit einer losen Folge von Einzelfällen zu tun, ohne historischen Kontext. Tatsächlich aber wird auch die Fußballindustrie von rassistischen Strukturen zusammengehalten. Das System ist der Skandal, und nicht der einzelne Vorfall.

Auch in Spanien wird das nach den Angriffen gegen Vinícius Júnior deutlich. Javier Tebas, Präsident der spanischen Liga, macht aus dem Opfer einen Täter, indem er sagt, dass Vinícius Júnior sich besser informiere solle, bevor er den Fußball verleumde. Tebas könne es nicht zulassen, dass der Ruf eines Wettbewerbs geschädigt werde, „der ein Symbol der Vereinigung zwischen den Völkern“ sei. An anderer Stelle wird Tebas von Journalisten gefragt, ob in der Geschäftsstelle von La Liga Schwarze Mitarbeitende tätig sind. Tebas lacht, druckst, zögert. Er sagt, dass er auf die „Hautfarbe“ nicht achten und Schwarze Menschen nicht zählen würde. Auch das ein bekanntes Muster: Funktionäre wie Tebas wollen sich „farbenblind“ und bewusst tolerant geben. Tatsächlich überdecken sie ihre Inkompetenz.

Für ein tieferes Verständnis von rassistischen Strukturen müssen wir uns intensiver mit dem Kolonialismus befassen. Spätestens seit dem Mord an George Floyd 2020 in den USA und dem Erstarken von Black Lives Matter haben Netzwerke in mehreren Regionen der Welt Debatten angestoßen. Sie erinnern auch daran, wie die europäischen Kolonialmächte ab dem 16. Jahrhundert viele Millionen Menschen versklavten, ihre Kulturschätze raubten und ihnen ihre Religion aufzwangen. Politiker*innen in London oder Paris geben inzwischen dem öffentlichen Druck nach und befassen sich mit den Gewaltherrschaften, die in ihren Ländern noch nicht allzu lange zurückliegen. Berühmte Museen in Berlin oder Amsterdam erwägen Maßnahmen, die von zehn Jahren noch unrealistisch erschienen: Die Rückgabe gestohlener Objekte in die Herkunftsländer.

Das Buch „Spielfeld der Herrenmenschen“ soll dies Diskussion fortführen und nimmt dafür die wohl einflussreichste Alltagskultur unserer Zeit in den Blick. Denn auch die globale Verbreitung des Fußballs wäre ohne den Kolonialismus undenkbar gewesen. Über Generationen wurden romantisierende Beschreibungen des Sports weitergetragen. England gilt bis heute als ehrbares „Mutterland des Fußballs“. Französische Funktionäre wie Jules Rimet, einst Fifa-Präsident und Gründer der Weltmeisterschaft, wollten mit Hilfe des Fußballs die „Verständigung zwischen den Völkern“ stärken. Eine Phrase, die etliche Sportfunktionäre noch heute nutzen.

Hinter dieser idealisierenden Fassade stoßen wir auf Gewalt, Ausbeutung, Überlegenheitsdenken. Dieses Buch beschreibt anhand von Reportagen in früheren Kolonien, wie sehr Menschen unter dem Siegeszug des Fußballs gelitten haben. In Indien etwa wollten britische Kolonialherren im 19. Jahrhundert ihre „Untertanen“ durch Sport „zivilisieren“. In Algerien ließen französische Soldaten lange nur wenige Muslime mitspielen, um Neid zwischen den Einheimischen zu provozieren. In Mosambik rekrutierten portugiesische Behörden Schwarze Männer für ihre Armee und ihre Fußballklubs, um im internationalen Vergleich als freundlicheres Kolonialreich durchzugehen. Und in Namibia konnten sich Vereine der deutschsprachigen Minderheit besser entwickeln, weil die Schwarze Mehrheit über Jahrzehnte unterdrückt worden war.

Die Kolonialisten folgten der damaligen Wissenschaft und glaubten an die Idee von „Menschenrassen“. In ihren Augen waren Schwarze Menschen intellektuell unterlegen und körperlich überlegen. Dieses Buch analysiert im Detail, wie sehr die kolonialen Praktiken aus jener Zeit den Fußball noch heute prägen: Schwarze Fußballer sind als Spielgestalter, denen man Weitsicht und Intelligenz nachsagt, häufig unterrepräsentiert. Auf Außenpositionen, die mit Kraft und Körperlichkeit verknüpft werden, sind sie überrepräsentiert. Neokoloniale Denkmuster finden wir in Fangesängen, Fernsehkommentaren und sogar in Videospielen.

Es ist wichtig, den lauten Rassismus in den Stadien zu thematisieren. Aber es ist auch wichtig, über die lautlose Ausgrenzung zu sprechen. In Deutschland haben mehr als ein Viertel der Menschen eine Einwanderungsgeschichte. Doch dieser Anteil ist in Fankurven, Sportredaktionen und Schiedsgerichten niedriger und geht zum Teil gegen null. Auf der Entscheidungsebene erhalten nicht-weiße Trainerinnen, Funktionärinnen oder Schiedsrichter*innen selten eine Chance. Wie müssten sich Verbandswesen, Marketing und Berichterstattung wandeln, damit der Fußball tatsächlich die europäischen Einwanderungsgesellschaften spiegelt?

Seit etwa 150 Jahren wird die Geschichte des Fußballs von weißen Männern geschrieben. Auch der Autor dieses Buches ist weiß und muss sich nicht vor rassistischen Kommentaren und musternden Blicken fürchten. Die neun vorliegenden Kapitel sollen nüchtern und differenziert über Ursachen von Rassismus im Fußball aufklären. Das Buch basiert auf Recherchen in neun Ländern auf fünf Kontinenten, mit mehr als 120 Interviews in den Jahren 2020 bis 2023. Ein globaler Fokus ist notwendig, um die Hierarchie zwischen den Erdteilen, die auch nach dem Kolonialismus fortdauert, im Fußball besser zu erfassen.

Rassistische Sprache und Bilder sollen in diesem Buch nicht reproduziert werden, aber auch die Kontexte und Schilderungen der Betroffenen können auf Leser*innen verstörend wirken. Das Adjektiv Schwarz wird durchgängig großgeschrieben. Denn es geht dabei nicht um eine tatsächliche Hautfarbe, sondern um eine politische Kategorie. Gemeint sind Menschen, die aufgrund ihres Aussehens von anderen markiert und abgewertet werden.

Im Zentrum des Buches stehen jene Menschen, die sich mit Mut und Expertise gegen Diskriminierung stellen: In England vernetzen sich Schwarze Schiedsrichter, um gemeinsam eine stärkere Stimme zu haben. In Brasilien produzieren Reporterinnen einen Podcast für afrobrasilianische Themen im Sport. In den USA streiten Trainerinnen für eine größere Beteiligung von Latinos in Verbänden. Und in Lateinamerika wollen indigene Gruppen nicht mehr für die Symbolik von mehrheitlich weißen Sportklubs herhalten. Die Biografien all dieser Menschen stehen für ein kreatives, konstruktives Engagement gegen Rassismus, das sogar Spaß machen darf.

In Deutschland konzentrierten sich Medien seit den 1990er Jahren immer wieder auf die extreme Rechte: auf die NPD, auf Hooligans oder den rechten Flügel der AfD. Darüber hinaus sollten wir noch mehr auf rassistische Einstellungen in der Gesellschaft schauen, durch die sich Rechtsextreme ja auch legitimiert fühlen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichte im September 2023 abermals mit der Universität Bielefeld die so genannte „Mitte-Studie“ zu menschenfeindlichen Einstellungen in Deutschland. Demnach waren rund ein Drittel der Befragten der Meinung, dass Geflüchtete nur ins Land kämen, um das Sozialsystem auszunutzen. 16 Prozent stimmten folgender Aussage zu: „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet.“

Die Ergebnisse der Studie legen auch nahe, dass befragte Mitglieder von Fußballvereinen häufiger rassistisch eingestellt sind als Mitglieder anderer Sportvereine und auch häufiger als Befragte ohne Sportmitgliedschaft. Was sind die Ursachen? Männlichkeitskult und Freund-Feind-Denken? Enthemmungen in der anonymen Fankurve und das Bekenntnis zu Kampfkraft, Ehre, Heimat? Dieses Buch sucht nach Antworten und zieht eine Linie bis in die Kolonialzeit.

Die Diskussion dürfte in den kommenden Jahren weiter an Fahrt gewinnen. Aktivist*innen wollen ihre Umgebung „dekolonisieren“. Sie stoßen Denkmäler von historischen Figuren um, die einst von Rassismus profitiert hatten. Sie streiten für die Umbenennung von Straßennamen und werben für mehr Sensibilität im Schulunterricht. Der Fußball, der seit Jahrzehnten eine gesellschaftliche Sonderrolle beansprucht, benötigt ebenfalls eine „Dekolonisierung“. Wie könnte dieser Prozess aussehen? Dieses Buch stellt Argumente bereit. #DecolonizeFootball: unter diesem Hashtag sollen Ideen in sozialen Medien gesammelt werden. Die Debatte ist eröffnet.